Philosophie
„Die Staatsform muss ein durchsichtiges Gewand sein,
das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt.“
Georg Büchner
„Die Staatsform muss ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt.“
Georg Büchner
Die Wertstufendemokratie ist ein philosophisch und systemtheoretisch begründetes Modell, das die Komplexität der Gesellschaft in sich widerspiegelt und ihr deshalb wie auf den Leib geschneidert ist. Bevor aber nun diese sozialphilosophische Grundlage wenigstens in den Grundzügen erörtert und die daraus abgeleitete Wertstufendemokratie vorgestellt wird: Wie steht es eigentlich um unsere gegenwärtige Demokratie? Lohnt es sich überhaupt, über neue Modelle nachzudenken?
Unter kritischen Zeitgenossen lässt sich diese Frage eigentlich nur als rhetorische stellen. Längst wird es auch öffentlich ausgesprochen: Die Parteien sind »überfordert« (Sascha Lobo), zu reinen »Selbsterhaltungssystemen« geworden, die Wahlkämpfe ein »Kasperltheater« (Richard David Precht); innovative Konzepte sucht man vergeblich, stößt nur auf »Zukunftsvergessenheit« (Harald Welzer). Auch Aktivistinnen schlagen Alarm: Die Parteien agieren »zukunftsbefreit« (Luisa Neubauer), keine ist »auch nur annähernd in der Lage«, das Pariser Abkommen einzuhalten (Greta Thunberg). Und der Volksmund geht sogar noch weiter: nicht die Menschen, auch nicht die Parteien, das »Geld regiert die Welt«.
Warum ist das so? Die Stagnation der Demokratie hat hauptsächlich strukturelle Gründe:
Unsachlichkeit und Inkompetenz der Allzuständigkeitsparteien: Die Parteien und Abgeordneten werden für alle Themen auf einmal gewählt und sind damit schlicht überfordert. Entsprechend inhaltslos sind die Wahl- und Parlamentsdebatten: Die entscheidenden Fragen werden nicht aufgeworfen und wirklich durchgreifende Reformen nicht diskutiert – das Grundproblem, wie die scheinbar unvermeidliche Wirtschaftsabhängigkeit der Demokratie gelöst werden könnte, schon gar nicht. An Stelle von Sachlichkeit und Gestaltungsmut treten Fraktionsdisziplin, Machtpoker, Selbstdarstellung, Blockmentalität, Reformstau, bloße Spekulation auf vermeintlichen Volkswillen etc.
Mangelnde Repräsentativität: Von der Inhaltslosigkeit der Parteiprogramme im Allgemeinen abgesehen, ergeben sich aufgrund der Allzuständigkeit der Parteien auch noch hunderte Wahldilemmata nach dem Muster: Wen soll ich wählen, wenn ich die eine Partei in Frage X (z.B. Finanzpolitik), die andere in Frage Y (z.B. Außenpolitik) besser finde – hier schon vorausgesetzt, dass in einem alle Themen auf einmal behandeln sollenden Wahlkampf überhaupt alle Themen ausreichend zur Sprache kommen? In vielen Fragen werden wir also nicht einmal der Tendenz nach angemessen vertreten…
Strukturelle Korruption: Dass sich die Politik primär an wirtschaftlichen Interessen orientiert, obwohl im Grundgesetz von unantastbaren Grundwerten und Menschenwürde die Rede ist, hat seinen Grund in der schon angesprochenen Wirtschaftsabhängigkeit unserer Gesellschaft: In Zeiten des globalen Marktes jagt das Kapital auf der Suche nach der maximalen Rendite um den ganzen Globus und spielt die Staaten als konkurrierende Investitions- und Wirtschaftsstandorte gegeneinander aus, um sich unter möglichst profitablen Bedingungen um seiner Vermehrung willen vermehren zu lassen – auf Kosten von Mensch, Natur und Demokratie. Dort, wo der Profit durch staatliche Regulierung gehemmt wird, drohen Kapitalabfluss und steigende Arbeitslosigkeit. Diese sogenannten „Sachzwänge“ ließen sich freilich aufheben durch eine tiefgreifende Reform unseres Wirtschaftens. Jedoch – und hier schließt sich der Kreis –: Welche der gegenwärtigen Parteien wäre denn ernsthaft gewillt und imstande, dieses Problem in aller Schärfe zu thematisieren und an der Wurzel anzugehen?
Es handelt sich hierbei offensichtlich nicht um das Versagen von einzelnen Abgeordneten oder Parteien (diese können vielmehr selbst als Opfer des Systems betrachtet werden), sondern um ein Strukturproblem, das auch nur strukturell gelöst werden kann. Wie könnte man die Demokratie also grundlegend weiterentwickeln? Während sich schon die ersten Menschen aus Verzweiflung auf die Straßen kleben, wollen wir erst einmal einen Schritt zurücktreten und fragen: Was ist überhaupt Gesellschaft? Und da Gesellschaft offensichtlich ein zwischenmenschliches Geschehen ist: Was ist der Mensch?
Auf letztere Frage eine inhaltlich erschöpfende Antwort zu geben, wäre unmöglich. Doch die allgemeine Struktur unseres bewussten Daseins – d.h. das Relationsgefüge der grundlegenden Elemente, aus denen sich alles Erleben zusammensetzt – lässt sich aufzeigen im Ausgang von der ersten und unbezweifelbaren Gewissheit, der Selbstgewissheit meines bzw. deines Ich. Ich oder Selbstbewusstsein ist gelebte Selbstreflexion: das Ich besteht darin, dass es sich spontan auf sich selbst bezieht und sich selbst begleitet; nur so ist eben zu erklären, wie es sich bewusst erkennt in seinem Dass. In dieser gelebten Selbstrelation bezieht es sich aber zugleich auf Anderes – den Inhalt seiner Selbstreflexion, der sich in folgende Kategorien einteilen lässt:
1. auf Natur und Objektives (Es), d.h. alles räumlich Ausgedehnte;
2. nachträglich-objektivierend auf sich selbst wie auf ein Anderes: das empirisch-psychologische, theoretische Selbstbild („kleines“ ich);
3. auf andere Personen, anderes Selbstbewusstsein (Du);
4. auf das gemeinsame Sinn-Medium (Wir): die unendliche offene Weite von Sinn überhaupt, in der wir als selbstbezügliche und insofern unbedingte Realitätserfahrung immer schon stehen und die uns als mediales Zwischen den Bezug zur Welt und zu unseren Mitmenschen vermittelt. Dieses Sinn-Medium ist also das Informationsfeld oder der (nicht-räumliche) „Verstehensraum“, der in seiner ursprünglichen unendlichen Offenheit von uns gemeinsam gefüllt und ausgestaltet werden kann: sei es der Sinngehalt einer aktuellen Begegnung, seien es die historisch gewachsenen Sprachen und Kulturen mit ihren Werten, Normen etc.
Diese fundamentale Struktur des Bewusstseins lässt sich entsprechend mit folgender Skizze veranschaulichen:
Alles bewusste Erleben spielt also zwischen vier Polen: Es, Ich/ich, Du, Wir (Sinn-Medium). Wenn wir nun die Vogel-Perspektive einnehmen und betrachten, wie Menschen in Beziehung zueinander treten, stellen wir fest, dass sie sich im sozialen Handeln wiederum auf die vier Sinn-Elemente beziehen können. Diese vier sozialen Beziehungsarten entsprechen vier Reflexionsstufen, die in einer logischen Rangfolge stehen:
1. objektbezogen (instrumental): Ich sehe oder reflektiere mein Gegenüber als bloßes Objekt bzw. in Bezug auf Objektives, wie es z.B. beim Kauf von etwas der Fall ist.
2. selbstbezogen (strategisch): Ich sehe mein Gegenüber als selbst sehend und beziehe sein Verhalten auf meine persönlichen Interessen und Zwecke zurück (womöglich ebenso umgekehrt). Ich berücksichtige es also strategisch, wie z.B. im Verkehr oder wenn ich aus der Bahn aussteige, weil der Kontrolleur kommt und ich kein Ticket habe.
3. Du-bezogen/dialogisch (kommunikativ): Ich sehe mein Gegenüber nicht mehr nur als selbst sehendes, sondern als ein mich um meiner selbst willen sehendes und sich darin auch von mir um seiner selbst willen gesehen wissendes. Ich sehe das Du als Du und öffne mich dadurch für seine Interessen und Bedürfnisse. Ist dies auch umgekehrt der Fall, kommt es erstmals zu einer kommunikativen Gegenseitigkeit und Übereinstimmung, die sich aber jederzeit wieder auflösen kann. Beispiel: Ich spreche das Pärchen vor mir an und sofern die beiden mich nicht aufdringlich finden und ebenfalls die kommunikative Ebene betreten, unterhalten wir uns freundlich miteinander.
4. Wir-bezogen/medial (metakommunikativ): Auf der letzten Stufe nehme ich Stellung zu dieser Gegenseitigkeit, d.h. ich reflektiere sie in Bezug auf das Sinn-Medium und somit auf die inhaltliche Gemeinsamkeit zwischen mir und meinem Gegenüber. Sofern dieses ebenfalls diese Stufe betritt, können wir unsere inhaltliche Gemeinsamkeit gemeinsam bestimmen (oder auch infrage stellen, neu vereinbaren etc.). Zum Beispiel kann das Pärchen in der Bahn tuschelnd etwas ausmachen (gelungene Metakommunikation) und mir daraufhin zu verstehen geben, dass sie mich sehr sympathisch finden und mich gerne noch mit zu sich nehmen würden, was ich ablehnen oder in der Schwebe lassen (fehlgeschlagene/einseitige Metakommunikation) oder natürlich auch annehmen kann (gelungene Metakommunikation). Genau hier entstehen also soziale Handlungsmuster (kollektive Intentionalität), wozu nicht nur erfreuliche Abmachungen gehören, sondern auch Werte, Normen, Glaubenssätze etc.
Im sozialen Handeln sind stets alle vier Reflexionsstufen latent vorhanden bzw. werden instantan durchlaufen – wobei allerdings immer eine Stufe als maßgebliche hervortritt. (Eine Symmetrie muss nicht immer gegeben sein; z.B. kann das eine Subjekt kommunikativ handeln, das andere Subjekt dies aber strategisch ausnutzen.)
Wie zeigt sich dies nun in der Gesellschaft? Historisch bildete sich für jede Stufe des sozialen Handelns ein bestimmtes Medium heraus, das die entsprechende Art der sozialen Interaktion vereinfacht und normiert. In diesem Zug etablieren sich vier System-Ebenen oder Subsysteme, die eine relative Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit gewinnen (und sich abermals nach den Reflexionsstufen untergliedern lassen):
Die vier sozialen Ebenen stehen nun nicht einfach beziehungslos nebeneinander, sondern durchdringen einander auch wechselweise. So lässt sich das politische Subsystem (mit seinen formalen Funktionen Verwaltung, Regierungs-Exekutive, Legislative und Judikative), das hier näher betrachtet werden soll, einerseits von den anderen Subsystemen unterscheiden. Andererseits aber ist es kein Selbstzweck, sondern eine Funktion der ganzen Gesellschaft: es setzt nämlich für alle Stufen des Miteinanders einen rechtlichen Rahmen. Darum lassen sich in der Politik selber wiederum vier inhaltliche Dimensionen unterscheiden: Grundwertepolitik, Kulturpolitik, Politik im engeren Sinne (strategische Macht-Politik), Wirtschaftspolitik.
Was hilft uns das für unser Demokratieproblem? Es sei an drei wesentliche Schwächen der jetzigen Demokratie erinnert: Ihre strukturelle Korruption durch wirtschaftliche und strategische Interessen auf Kosten von Grundwerten und kulturellen Werten; die Inkompetenz der aufgrund ihrer Allzuständigkeit überforderten Parteien und Abgeordneten, die die Wirtschaftsabhängigkeit der Demokratie ebensowenig beheben wie die Wirtschaft von ihrem irrationalen Wachstumszwang erlösen können, ja überhaupt den Problemen eher unkreativ-ahnungslos gegenüberstehen; Parteien, die zu allem Überfluss nicht einmal repräsentativ sind, weil sie nicht für einzelne Sachbereiche, sondern für alles zugleich (und damit für nichts) gewählt werden.
Das daraus abgeleitete Demokratiemodell beruht nun auf einem einfachen, aber folgenreichen Strukturprinzip: Wir müssen den Dimensionen des Politischen institutionell Rechnung tragen und das Ganze dabei vom Kopf auf die Füße stellen – und zwar durch die Gliederung des gesamten politischen Systems, vorrangig des Einheitsparlaments in Grundwerteparlament, Kulturparlament, Politikparlament, Wirtschaftsparlament, mit einer Rahmengesetzgebung von den Grundwerten aus.
Diese Teil-Parlamente werden unabhängig voneinander im Zuge gesonderter Wahldebatten (in verschiedenen Wahljahren) gewählt. Die bisherigen Allround-Parteien mit ihren angeblichen Universalgenies von Abgeordneten gibt es nicht mehr; stattdessen Sach-Parteien und Kompetenz-Abgeordnete, die nur für eine Ebene antreten dürfen und sich entsprechend auf diese und die entsprechende soziale Perspektive fokussieren können. Die Zusammenarbeit der Parlamente bei der Gesetzgebung wird durch die Rahmengesetzgebung von 4 nach 1 geregelt: höhergestellte Parlamente dürfen den ihnen untergeordneten Weisungen geben.
Die vier Sachparlament nehmen also jeweils eine Ebene des Sozialen in den Blick und bringen bei der Gesetzgebung die entsprechende Gesetzes-Perspektive mit ein.
(4) Das Grundwerte-Parlament ist für die rechtliche Ermöglichung und Förderung eines freien weltanschaulich-ethisch-religiösen Miteinanders zuständig. Bei der kooperativen Gesetzgebung setzt es den wichtigsten, nämlich ethischen Rahmen, indem es die im Grundgesetz formulierten Grundwerte rechtlich konkretisiert, dem Werte-Wandel der Menschen dynamisch Rechnung tragend.
(3) Das Kulturparlament ist für die rechtliche Gestaltung des kommunikativen Miteinanders zuständig. Dies umfasst systemisch betrachtet die Themen Bildung, Wissenschaft, Publizistik und Kunst. Bei der Gesetzgebung bringt es die zweitwichtigste kulturelle Perspektive mit ein.
(2) Das Politikparlament fokussiert sich auf die Regulierung von Machtkompetenzen, wozu die Themen Bodeneigentum und Verkehr, Sicherheit, Außenpolitik und Verfassungspolitik zählen. Bei der Gesetzgebung bringt es die machtstrategische Perspektive mit ein, die nur noch über der wirtschaftlichen steht.
(1) Das Wirtschaftsparlament ist allein für die rechtliche Gestaltung der Wirtschaft zuständig. (in ihren Bereichen Konsum/Landwirtschaft, Produktion, Handel/Dienstleistungen, Finanzwesen). Es bringt entsprechend die wirtschaftlich-finanzielle Perspektive in die Gesetzgebung mit ein. Es ist zwar an die Weisungen der übergeordneten Parlamente gebunden, jedoch hat es im Kreislauf der Gesetzgebung die Möglichkeit, diesen kritische Rückmeldung zu geben.
Die Vorteile liegen auf der Hand:
1. Mit der Rahmengesetzgebung wäre endlich eine Werte-Ordnung institutionalisiert, die den Vorrang demokratischer Grundwerte und kultureller Werte vor strategischen und wirtschaftlichen Interessen sichert. Die gesamte Politik und alles Recht würde ständig gemäß dieser Werte-Ordnung hinterfragt und (neu) gestaltet.
2. Zugleich käme durch die bereichsspezifischen Wahlen von versierten Sach-Parteien für die Teil-Parlamente endlich Kompetenz und Gestaltungssinn zum Zuge.
3. Da jedes der Teil-Parlamente direkt für einen bestimmten Sachbereich gewählt wird, der unmittelbar zusammengehörende Sachfragen bündelt, wäre eine innere Synthese von direkter und repräsentativer Demokratie erzielt und die Wahldilemmata zwischen den vier großen Sach-Bereichen abgeschafft.
„Alle, aber auch wirklich alle Probleme unserer Gesellschaft hängen an der einfachen Frage: Wer kommt zu Wort, und wie können die Wortmeldungen geordnet aufeinander bezogen werden? Die Probleme der Gerechtigkeit, also von Arm und Reich, die Ernährungsprobleme der Welt, die Probleme mit der Natur und ihren Schätzen, Arbeitslosigkeit und Verkehr, Frieden und gerechte Grenzen, Gerechtigkeit auch in den Bildungschancen – alles das ist sachlich lösbar, hängt aber von der einen Schlüsselfrage ab: Wie können die Menschen sachlich und friedlich, womöglich verständnis- und vertrauensvoll diese Lösungen aushandeln? Und zwar indem alle Betroffenen, das sind alle, zu Wort kommen?“
(Johannes Heinrichs: Demokratiemanifest für die schweigende Mehrheit, S. 37.)